Beginn der Essstörung

Einen genauen Beginn der Essstörung auszumachen, ist für viele unserer Erzählerinnen schwierig. Viele schildern eine Entwicklung über mehrere Jahre. Manche sagen, dass Essen und Sorgen über die Figur für sie „schon immer“ ein Thema waren. Andere sagen, dass sie sich über diese Dinge früher keine Gedanken machten, sondern erst mit der Essstörung darauf kamen. Bei den meisten unserer Erzählerinnen führten die Themen des Essens bzw. nicht-Essens, Figursorgen und Maßnahmen, um Gewicht loszuwerden, in der Zeit zwischen 11 und 17 Jahren erstmals zu einer massiven Beeinträchtigung des Alltags (siehe Alltag mit der Essstörung).

Auslöser für die Essstörung

Als Auslöser für die Entwicklung einer Essstörung nennen die Erzählerinnen, dass sie zu irgendeinem Zeitpunkt – häufig auf zunächst „harmlose“ Weise – begannen, ihr Essen einzuschränken. Einzelne taten dies aus gesundheitlichen Gründen: Weil sie bestimmte Nahrungsmittel nicht (mehr) vertrugen oder wegen einer Krankheit des Magen-Darm-Trakts. Auch das Fasten aus religiösen Gründen konnte dies auslösen. Viele machten Diäten, um abzunehmen, die „außer Kontrolle“ gerieten. Manche begannen damit, zu erbrechen, um Essen wieder loszuwerden. Bei vielen ging das veränderte Essverhalten damit einher, dass sie begannen, exzessiv Sport zu treiben, um Kalorien „abzutrainieren“. Bei manchen führte das Einschränken von Essen bald zu Essanfällen (siehe Abnehmen, Essanfälle, Erbrechen). Schließlich, so beschreiben es die Erzählerinnen, geriet alles aus dem Ruder.

Stefanie Peters nahm bei einem Aufenthalt in Amerika viel zu und geriet durch eine anschließende Diät in die Essstörung.

 

Gründe und Ursachen der Essstörung

Unsere Erzählerinnen stellen sich immer wieder die Frage nach den Gründen bzw. Ursachen für die Essstörung: Wie konnte es dazu kommen, dass Essen und Sorgen über die Figur zu irgendeinem Zeitpunkt so in den Vordergrund rückten? Sie erzählen von der Notwendigkeit, sich immer wieder vor sich selbst und anderen rechtfertigen zu müssen, warum sie nicht einfach „normal“ essen (siehe Essen im Alltag und mit anderen).

Einige haben Erinnerungen an konkrete Situationen, in denen es begann: Bestimmte schwierige Lebensveränderungen (beispielsweise Umzüge), Aufenthalte im Landschulheim oder Trauerphasen.

Manche der Erzählerinnen sagen, dass zu Beginn ihrer Essstörung für sie vor allen Dingen die Kommentare anderer oder der Vergleich mit anderen eine wichtige Rolle spielten. Einige erinnern sich an negative Kommentare und Hänseleien, für andere stand der soziale Vergleich im Vordergrund. Sie hatten das Gefühl, sie sollten weniger essen, weil andere dünner oder beim Essen „beherrschter“ erschienen als sie. Schließlich erzählen einige, dass die Komplimente, die sie am Anfang für das Abnehmen bekamen, sie darin bestärkten, weiterzumachen.

Claudia Siebert erinnert sich an grausame Bemerkungen der anderen Kinder im Sportunterricht, weil sie „pummelig“ war.

Der Einfluss von Schönheitsidealen und Medienformaten wie Casting-Shows wird von den Erzählerinnen unterschiedlich bewertet. Manche sehen die Darstellung von Körpern in Sendungen wie Germanys Next Topmodel als entscheidende Ursachen dafür an, dass sie eine Essstörung entwickelt haben. Martina Fuhrmann erzählt, dass sie aussehen wollte wie Twiggy [sehr dünnes Model der 60er Jahre], und deshalb mit Diäten begann. Andere sagen, dass sie nicht denken, dass solche Faktoren für sie eine Rolle spielten.

Einige unserer Erzählerinnen bringen den Beginn der Essstörung mit dem Einsetzen der Pubertät und den einhergehenden körperlichen Veränderungen in Zusammenhang. Sie fühlten sich in ihrem immer weiblicher werdenden Körper nicht mehr wohl oder konnten sich mit ihrer weiblichen Rolle nicht anfreunden. Sie denken, dass sie bewusst oder unbewusst versuchten, durch Diäten die weiblichen Rundungen „loszuwerden“.

Im Nachhinein sehen viele Erzählerinnen vor allen Dingen biografische Zusammenhänge, wie eine schwierige Situation in der Herkunftsfamilie, als ausschlaggebend dafür, dass sie eine Essstörung entwickelten (siehe Familie, Partnerschaft, Kinder). Sie denken, dass sie die Essstörung „brauchten“, um sich von der Familie zu lösen, mit hohen Leistungsansprüchen umzugehen, schlimme Gefühle „wegzuhungern“ oder um etwas zu haben, das ihnen Aufmerksamkeit einbrachte. Brigitte Meyer meint beispielsweise: „Aber natürlich hat mir dieses Fressen auch geholfen, aus der Familie rauszukommen“. Es gibt jedoch auch Erzählerinnen, die ihre Familie als sehr unterstützend erlebt haben und nicht den Eindruck haben, dass die Ursachen dort zu finden sind. So betont Lena Huber: „Bei mir war es so, dass ich von meiner Familie aus immer viel Unterstützung bekommen habe. Ich bin der Meinung, meine Familie ist nicht der Grund, wieso ich in die Essstörung reingefallen bin. Ich glaube, es hat verschiedene Gründe wieso das bei mir passiert ist.“

Manche der Erzählerinnen nahmen aus Psychotherapien die Erkenntnis mit, dass ihre Erkrankung mit speziellen Familiensituationen in Zusammenhang stehen könnte (siehe Ambulante Psychotherapie). Für viele bedeutete es eine Entlastung, für sich selbst plausible Erklärungen dafür zu finden, wieso sie eine Essstörung entwickelten.

Zumindest über bestimmte Zeiträume brachte die Essstörung für die Erzählerinnen auch positive Effekte mit sich (siehe Gedanken und Gefühle in der Essstörung). Manche berichten von positiven Kommentaren zu ihrer Figur. Einige genossen zumindest eine Zeitlang die Aufmerksamkeit und Sorge der Anderen, die die Erkrankung mit sich brachten. Es gibt Erzählerinnen, die sagen, dass sie in der Erkrankung einen Halt fanden, den sie sonst im Leben vermissten, oder dass sie sich über andere erhaben fühlten, die nicht so diszipliniert waren wie sie selbst.

Die Suche nach Erklärungen ist für viele der Interviewten auch deshalb wichtig, weil sie die Erfahrung gemacht haben, dass andere ihnen vorwerfen, selbst schuld an der Erkrankung zu sein. Manche erzählen von Kommentaren anderer wie: „Iss doch einfach mal was“ oder „Hör doch mal damit auf“ (siehe Soziales Leben) und fühlen sich davon sehr verletzt. Sie betonen, dass sie sich nicht ausgesucht haben, zu erkranken, und dass sie auch nicht einfach wieder „aufhören“, bzw. einfach wieder „normal essen“ können. Alle Erzählerinnen stimmen darin überein, dass aus der Krankheit herauszukommen ein langer und steiniger Weg ist, für den man viel Hilfe und Unterstützung braucht (siehe Was hilfreich sein kann, Erfahrungen mit Ärzten, Ambulante Psychotherapie, Stationäre Klinikaufenthalte, Ergänzende Unterstützung, Andere Betroffene und Selbsthilfegruppen).